Ankunft im Paradies
"Artek ist eine Legende. Es ist das russische Ferienlager schlechthin. Es wird dir den Atem verschlagen". Das war das erste, was ich von dem Ort hörte, wo ich die nächsten 14 Tage verbringen sollte.
Am Bahnhof von Simferopol erwartet uns Ruslan, ein auf den ersten Blick unscheinbarer junger Mann, aus dessen Augen jedoch der Schalk spricht.
"Ich wähle einen Teil des Personals von ARTEK aus. Und ich habe euch ins Lager eingeladen", erklärt er kurz. Wir steigen in einen schäbigen Minibus. "Dies ist nur einer von 50 Bussen. ARTEK hat einen eigenen Fuhrpark und einen eigenen Busbahnhof. Und auch sonst alles, was zu einer richtigen Stadt gehört"
Eine halbe Stunde später taucht das berühmte Ferienlager vor unseren Augen auf. Ruslan hat recht: es ist eine Stadt!
ARTEK nimmt eine gesamte Bucht ein, zu Füßen des Krimgebirges, direkt am Schwarzen Meer, in unmittelbarer Nähe von Alushta und Yalta. Das Wahrzeichen des Lagers sind zwei gewaltige Felsen draußen im azurblauen Meer, wie von Gotteshand gespalten.
1925 wurde das Lager eröffnet, und seither ist es ständig gewachsen. Heute verbringen hier 5000 Kinder gleichzeitig ihre Ferien, betreut von bis zu 2000 Mitarbeitern.
Das Lager ist unterteilt in 10 Einzelbezirke in parkähnlicher Landschaft. Die Häuser sind dreistöckige Flachdachbauten mit gewaltigen Dachterrassen und Blick aufs Meer. Weitläufige Parks wechseln sich ab mit gigantischen Appellplätzen. Breite Straßen führen ans Meer und in die verschiedenen Lagerteile. Alles läuft sehr diszipliniert ab. Die meisten Kinder tragen Uniform.
Ich werde einer Gruppe mit 35 Kindern aus Irkutsk, Sibirien zugeteilt. Es sind professionelle Tänzer, berühmt in der gesamten ehemaligen Sowjetunion.
Meine Aufgabe ist es, den beiden Jugendleitern, die die Gruppe betreuen, ein wenig unter die Arme zu greifen und den Kindern etwas von "deutscher Sprache, Musik und Kultur" beizubringen.
Das ist leichter gesagt, als getan! Denn ARTEK ist mir vollkommen fremd. 14 bis 16 Kinder teilen sich einen Raum, mit keinerlei Privatsphäre. Jede Minute ist verplant. Die Jugendleiter haben kaum eigene Entscheidungsbefugnis. Alles verläuft nach Plan. Jeder Schritt wird überwacht.
Der Tag beginnt um 7:30 mit dem Morgenappell und wird bestimmt von den fünf wenig schmackhaften Mahlzeiten: Frühstück, Mittagessen, Mittagsimbiss, Abendessen und Nachtimbiss.
Fast jeden Tag gibt es eine große "Show" oder ein "Event", das in den einzelnen Gruppen gründlich vorbereitet werden muss. Die Kinder stehen im ständigen Wettbewerb zueinander. Es gibt Sportwettkämpfe, Kulturwettkämpfe, Tanzwettkämpfe, Musikwettkämpfe und dergleichen mehr.
Tanz auf dem Appellplatz
Die Initiatoren von ARTEK sind stolz auf ihre Veranstaltungen.
So zum Beispiel auch auf den Tanzwettkampf. Den darf ich im Lagerteil "Lesnoj" (Am Wald gelegen) genießen. Einen Nachmittag lang hatten die Kinder Zeit, Tänze einzuüben, die sie jetzt der großen Jury vorführen. In bunten Kostümen wirbeln sie über den hellerleuchteten Appellplatz, in perfekter Harmonie. In den großen Oper- und Theaterhäusern in Deutschland wird auch nichts besseres geboten!
Anschließend wird aufgerufen zum offenen Tanz. Schätzungsweise 800 Menschen stürmen die Tanzfläche, die unterschiedlichsten traditionellen Tänze werden aufgelegt. Von Walzer, über Rumba und Tango bis hin zum Cha-Cha-Cha. Alle bewegen sich synchron, wie ein einziges wogendes Muster, jeder verwendet die exakt gleichen Schritte.
Es sieht großartig aus, doch ich bin verwirrt: die gemeinschaftlichen Tänze wurden nicht geübt und dennoch weiß jeder wie er sich zu bewegen hat. "Die großen klassischen Tänze werden schon in der Grundschule eingeübt", erkärt mir ein kleines Mädchen aus meiner Gruppe. Die Kinder sind entsetzt, dass ich die Tänze nicht kenne. Für sie sind die klassischen Tänze ebenso selbstverständlich, wie für mich das Alphabeth!
In der Wildnis
Alle paar Tage findet in ARTEK ein Ausflug statt. Dann fahren die Kinder in gewaltigen Reisebuskolonnen unter Polizeischutz irgendwo hin. Der längste Ausflug während meines Aufenthaltes führt ins Krimgebirge, in ein Außenlager ARTEKs. Nicht mehr, als ein paar primitive Holz- und Blechhütten mitten in Wald. Tropfende Wasserhähne an einer rostigen Blechleitung mit deutlichen Hinweisen, das Wasser nicht zu trinken. Und ein großer Blecheimer mit Schöpfkelle und Trinkwasser. Duschen? Fehlanzeige! Toiletten mit Wasserspülung? Ebenso.
"Hier sollen die Kinder lernen, unter primitiven Bedingungen in der Wildnis zu leben", erklärt uns der etwas heruntergekommene, schmutzstarrende Lagerbetreuer. Und das ist meines Erachtens dringend nötig, denn bisher durften die Kinder ARTEK noch nicht verlassen!
Auch jetzt dürfen sie sich nicht aus dem primitiven Barackenkreis entfernen, aber dennoch sind sie so fröhlich und unternehmungslustig, wie ich sie noch nicht erlebt habe.
Abends sitzen wir am Lagerfeuer und singen traditionelle russische Lieder. Die Kinder sind seelig: Endlich einmal kein Plan!
Nach dem Feuer laden die Jugendleiter uns Ausländer noch zu einem gemeinsamen Festessen ein. Stundenlang haben sie gekocht. Es ist das erste und einzige Mal, dass wir in Ruhe eine Party feiern können. Denn sonst wird den Jugendleitern auch abends und nachts immer im Dienst.
Am Strand
Am strengsten reglementiert ist die Badezeit. ARTEK hat wie die meisten Resorts der Krim nur einen schmalen, langgestreckten Steinstrand. Das Wasser ist 28 Grad heiß und bietet keinerlei Erfrischung. Alle 200 Meter wird der Strand von hässlichen Betonballustraden unterbrochen, die weit ins Meer hineinragen. Die so entstehenden Rechtecke sind mit Schnüren in kleine Quadrate von ca. 20 x 20 Metern unterteilt.
Jede Kindergruppe bekommt eines dieser Quadrate zugeteilt und darf nur dort schwimmen und nirgends sonst. Vor der Uferpromenade kreuzen Rettungsschwimmer in Ruderbooten und auf der Promenade steht ein weiterer Rettungsschwimmer mit Megaphon.
Er gibt das Kommando, wann geschwommen werden darf. Es dürfen nur etwa 15 Kinder gleichzeitig schwimmen. Die Kinder stürzen sich ins Wasser, baden was das Zeug hält, denn nach 15 Minuten müssen sie schon wieder raus.
Der Gruppenleiter selbst dürfen nicht schwimmen. Sie müssen die Kinder vom Ufer aus überwachen. Ich bin die Einzige, die tun und lassen darf, was sie will. Denn ich bin ja Ausländerin, für mich gelten die Regeln nicht.
Doch alleine macht das auch keinen Spaß.
Staatsbesuch
Ein paar Tage später bin ich mit ein paar Privatleuten aus dem Lager auf Ausflug. So wie in der Ukraine üblich haben wir ein Auto angehalten und den Preis ausgehandelt (das sollte man immer einen Ukrainer machen lassen, sonst wird man übers Ohr gehauen!). Kurz vor ARTEK werden wir angehalten. Sicherheitskräfte wollen unsere Papiere sehen. Als sie meinen deutschen Pass und meinen ARTEK-Passierschein sehen, werden Sie stutzig: Wir müssen das Auto verlassen und laufen! Die Straße ist gesäumt von gepanzerten Limosinen und Sicherheitspersonal. Es ist wie ein Spießrutenlauf.
Als wir einen ruhigeren Abschnitt erreichen, frage ich den kleinen Jungen in unserer Begleitung, was denn los sei. "Putin", sagt er andächtig, "Putin ist zu Besuch und die anderen aus unserer Gruppe tanzen für ihn".
Ich will mir das natürlich ansehen! Aber es ist kein Durchgang. Geschlossene Veranstaltung! Überall in ARTEK ist Polizei. Nirgends kann man sich frei bewegen. Ich beschließe, zum Strand zu gehen, aber der ist gesperrt. Schließlich liege ich in unserem Zimmer auf dem Bett und starre die Decke an. Putin reist am Abend wieder ab.
Die große ARTEK-Show
In der zweiten Woche kommt Kuschtma zu Besuch. Er kommt nicht überraschend. Er hat sich lange vorher angekündigt. Und ihm zu Ehren wird die große ARTEK-Show veranstaltet, der Höhepunkt des Jahres, übertragen im russischen Staatsfernseher. Der große Präsident huldigt die Kinder der Nation!
Vollkommen diszipliniert nehmen alle 5000 Kinder ARTEKs nebst allen 2000 Mitarbeitern und vielen Ehrengästen aus Politik und Wirtschaft in dem gewaltigen Stadion oben am Hang Platz. Mit großartiger Aussicht über die Bucht, das Meer und das Leninmonument, größtes der Ukraine. Eine gewaltige Lasershow wird veranstaltet, auf übermannhohen Leinwänden laufen bunte Filme, über 400 professionelle Tänzer verwandeln die Bühne in ein wahres Feuerwerk der Kunst. Ein großes Orchester spielt, mehrere gewaltige Feuerwerke zu Lande und auf dem Wasser erleuchten den Himmel taghell. Die Kinder jauchzen vor Vergnügen, blicken mit leuchtenden Augen auf das Geschehen, schwärmen noch hinterher von dem Präsidenten, obwohl sie ihn in seiner Loge nicht sehen konnten. Der Präsident verschwindet genauso schnell wie er gekommen ist. Sein Ziel ist erreicht: Mit solchen Veranstaltungen bleibt er der Bevölkerung positiv in Erinnerung.
Auf einer schneeweißen Jacht
In ARTEK machen viele Kinder aus reichen und einflussreichen Familien Urlaub. Unten am Wasser gibt es einen eigenen VIP-Hafen mit millionenschweren Jachten. Ruslan möchte uns auch diesen Teil von ARTEK zeigen. An einem Nachmittag sammelt er von uns Ausländern Geld ein und mietet für einen Nachmittag eine schneeweiße Segeljacht.
Wir kreuzen vor der Bucht von ARTEK, schlürfen Champagner und stärken uns mit frischen Wasser- und Honigmelonen. Dann stürzen wir uns direkt vom Schiff in das heiße, kristallklare Meer. Spielen Wasserball mit einer der Wassermelonen. Ein dekadenter Gegensatz zur sonstigen Ukraine!
Hursuf
In unmittelbarer Nähe von ARTEK liegt Hursuf. Es ist ein Dorf wie aus dem Bilderbuch: ein chaotisches Labyrinth von engen Gassen zwischen traditionellen Holzhäusern mit reich verzierten Balkonen. Die Siedlung zieht sich in steilen Kehren den Hang hinauf, am Strand ist ein Durcheinander von Schwimmern, wackeligen Seebrücken, alten, rostigen Dampfschiffen und klapprigen Fischerbooten. Hafen, Fischereihafen und Badestrand – das ist hier dasselbe! Überall wird diskutiert und gefeilscht, unzählige Kneipen und Gastwirtschaften säumen die Uferpromenade. Gewaltige soziale Gegensätze sind zu sehen. Ein echter Gegensatz zu ARTEK! Zusammen mit Apostolis, einem Griechen, unternehme ich auf eigene Faust mehrere Ausflüge hierhin – und genieße die Freiheit!
-> hier gehts weiter: die abenteuerliche Kanufahrt auf der Desna.